Das Gesetz der Anziehung kritisch und provokant hinterfragt

 
 

Ich möchte hier das Gesetz der Anziehung kritisch betrachten, welches von einigen, meist spirituell anmutenden, Richtungen im Coaching gelehrt wird. Diese Weltanschauung besagt, dass ich für Alles, was geschieht, voll verantwortlich bin. Widerfährt mir “Positives”, habe ich es angezogen; widerfährt mir “Negatives, habe ich es auch angezogen. Diese Sichtweise wurde durch das Buch / Video “The Secret” (Das Geheimnis) populär. Weitere bekannte Lehrer sind z.B. Byron Katie oder im deutschsprachigen Raum Robert Betz.

 

Das Gesetz der Anziehung kritisch betrachtet

Dazu habe ich einmal ein paar Fragen: Wenn ich vergewaltigt werde, bin ich dann selbst schuld? Habe ich das dann selbst angezogen, also eine Resonanz für (sexuelle) Gewalt erzeugt? Oder vielleicht bin ich dann deswegen selbst “schuld”, weil ich keine Burka trage?

Was ist, wenn ich Gewalttaten oder andere schlimme Dinge erlebt habe und mir dann die Freiheit und das Recht nehme, wütend zu sein, mich zurück zu ziehen, zu trauern, mir MEINE Zeit zur Verarbeitung zu nehmen, so wie es sich für MICH persönlich richtig und stimmig anfühlt? Ist das dann nicht “richtig”, weil … Ja, warum eigentlich? Weil dann andere Menschen, die mich ja gar nicht kennen, mich verurteilen und behaupten, ich würde eine “Opferrolle” spielen? (Oh wie fürchterlich, ein Opfer in unserer Leistungsgesellschaft. Das geht ja gar nicht.) Oder vielleicht, weil es vom psychiatrischen System vorgegeben ist, wie ich mich zu verhalten habe, wie ich zu sein habe, wie ich mit Dingen umzugehen habe? Ach ja, oder vielleicht, weil es ja mittlerweile eine Menge Coaches und (spirituelle) “Lehrer” gibt, die ja ganz genau wissen, was gut für mich ist? Und was ist eigentlich “krank”? Das, was DSM-5 und ICD-10 vorschreiben, worüber sich teilweise manche Menschen enorm aufregen, z.B. wenn es um AD(H)S geht? Brauchen wir die Diagnoserahmen überhaupt noch, wenn jetzt jeder Coach die Normierung der Menschen, des Lebens, der Lebendigkeit vornimmt / vornehmen darf? Oder brauchen wir vielleicht die Coaches nur, damit sich Herr x und Fräulein y auf die Lehren der Coaches berufen können, wenn sie andere Menschen in Schubladen stecken, verurteilen, normieren und be-/abwerten? Denn ist es nicht irgendwie “in”, die schlauen Sprüche der ach so spirituellen und weisen Coaches nachzuplappern und nicht die Lehren der Psychiatrie, die ja in der Kritik steht, weil sie Krankheiten erfindet und mit der Pharmalobby unter einer Decke steckt? Ist da nicht ein “liebevoll” anmutender Coach “besser”? Aber tun nicht Psychiatrie und Coaches genau das Gleiche: Von OBEN vorschreiben, was gut und was böse, was richtig und was falsch ist?

Opferrollen

Und wenn man schon von “Opferrollen” redet und zugleich an das Gesetz der Anziehung glaubt: Ist es nicht so, dass das “Opfer” die eigene Hilflosigkeit und Schwäche reflektiert, die aber in dieser Gesellschaft nicht erwünscht ist, nicht sein darf? Ist es nicht einfach und ungeheuerlich, die eigene Schwäche auf den Anderen – auf das Opfer – zu projizieren, indem man ihm suggeriert, dass er nicht erwünscht ist, dass er etwas “Schlimmes” tut, nämlich sich in eine Rolle zu begeben, nämlich in die “Opferrolle”? Aber warum Rolle? Ist das Opfer-Sein nicht Tatsache? Wie gerechtfertigt ist es denn, einfach mal jemandem zu unterstellen, er spiele eine “Rolle”?

Schuld

Und um einmal zur “Schuld”-Frage zu kommen: Wie wird Schuld definiert? Ist es nicht so, dass Schuld auf dem religiösen Konzept der Sünde beruht? Ist nicht das Konzept der Schuld seit jeher zur Machtausübung genutzt worden? Wird nicht auch heute noch die Schuld von Tätern gezielt eingesetzt um Menschen fügsam und mundtot zu machen?

Das Gesetz der Anziehung kritisch hinterfragt: Eigenverantwortung

Ist es nicht das, was die Anhänger des Gesetzes der Anziehung auch tun? Reden sie uns nicht auch Schuld ein? Aber Moment: Sind sie nicht für Eigenverantwortung und daher gegen Schuldzuweisungen? Sind sie das? Wenn sie das sind, warum predigen sie dann fortwährend ihre eigene Sichtweise? Trauen sie es uns nicht zu, unsere eigene Sichtweise zu haben, unsere eigene Weltanschauung, unsere eigenen Werte, unsere eigenen Gefühle, unsere eigene Art, mit den Dingen umzugehen – beruhend auf individueller Erfahrung und auf dem, was die eigene Seele und das eigene Herz empfinden? Und halten sie uns nicht genau damit klein, indem sie sich über andere stellen? Indem sie suggerieren, sie wüssten alles ganz genau? Indem sie vorgeben, sie wüssten was gut für Menschen ist, die sie nicht einmal kennen? Ist das nicht die perverseste und perfideste Form der Machtausübung und Manipulation überhaupt, obwohl – oder gerade weil – die Worte und das Tun dieser “Lehrer” ganz offiziell die Aufschrift Liebe tragen? Wenn sie für Eigenverantwortung wären, würden sie nicht dann anderen Menschen das Recht und die Gelegenheit zuerkennen, auf sich selbst zu hören?

Und um noch einmal auf das Thema Schuld zu kommen: Ist es nicht einfach ein normaler Bestandteil des Lebens, vermeintlich “negative” Dinge zu erfahren? Wenn man den Ansichten und der Lehre des Gesetzes der Anziehung folgt, impliziert das nicht, dass man nicht “richtig” bestellt hat, nicht die “richtige” Einstellung, nicht die “richtigen” Gedanken hat? Dass man nicht gut genug ist, es nicht “richtig” gemacht hat und noch nicht “weit genug” ist?

Und daher wiederhole ich hier die Eingangsfrage: Wenn ich vergewaltigt werde, bin ich selbst Schuld??? Was glauben Sie, wie sich diese implizite Unterstellung in den Ohren eines Betroffenen von (sexueller) Gewalt anhört???